Der Schritt zurück ist ein Schritt nach vorn
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Für Nico Reinecke ist die Partie gegen ETV Hamburg das letzte Heimspiel als Chefcoach des TSV Flacht. Seine Wehmut ist klein, er freut sich auf das, was kommt.
Jürgen Kemmner | Leonberger Kreiszeitung vom 12.04.2025
„Wir wollen gegen den ETV Hamburg gewinnen“, sagt Nico Reinecke, „wir wollen so das Ziel untermauern, die Liga unter den Top fünf zu beenden. Aber es wird nicht einfach.“ Ein typisches Statement eines Trainers vor einem Heimspiel mit dem Blick auf die kommende Begegnung. Eine Aussage, wie sie Coaches in vielen Ligen und vielen Sportarten immer wieder tätigen, wenn sie für eine Vorschau interviewt werden.
Und doch besitzt diese Aussage von Nico Reinecke einen besonderen Charakter, einen nicht alltäglichen Hintergrund. Wenn die Binder Blaubären des TSV Flacht an diesem Samstag (19 Uhr) auf das Team aus der Hansestadt treffen, wird der 41-Jährige zum letzten Mal als Chefcoach in der Zweiten Liga Pro in der Heckengäusporthalle auf der Bank sitzen. Oder besser: Er wird an der Seitenlinie auf und ab marschieren, wird auf sein Notebook blicken und Anweisungen für die Spielerinnen auf dem Feld erteilen.
„Ja“, bekennt Nico Reinecke und man fühlt diese leise Spur Emotionalität in seiner Stimme, „dieses Spiel wird schon etwas Besonderes für mich. Es wäre schön, diesen besonderen Moment mit einem Sieg zu erleben.“ Die Liga-Duelle gegen den ETV Hamburg sowie bei Bayer Leverkusen am 26. April sind seine letzten als Chefcoach der Blaubären, es folgt noch das Finale im Verbandspokal gegen Drittligist TSV Georgi Allianz Stuttgart am 4. Mai. Dann endet dieses Kapitel der Trainerkarriere für Nico Reinecke.
Der TSV Flacht hat sich entschieden, den Paketaufstieg in die Volleyball-Bundesliga wahrzunehmen und im Februar den Lizenzantrag gestellt – die Verantwortlichen um Manager Michael Kaiser und Sportdirektor Jan Lindenmair haben dabei entschieden, dass ein hauptamtlicher Trainer die Blaubären durch die neuen, unbekannten Gefilde der deutschen Eliteliga führen soll. Eine Aufgabe, die für Nico Reinecke in seiner Lebenswirklichkeit so nicht zu leisten ist.
Er geht als Wirtschaftsinformatiker einem ausgezeichneten Job in der Qualitätssicherung bei dem großen Autobauer mit Stern in Sindelfingen nach. Eine anspruchsvolle Tätigkeit, die viel Zeit fordert und vor allem die absolute Fokussierung. Es wäre ein halsbrecherischer Spagat geworden, wenn er nach einem Auswärtsspiel mit dem Bus nachts um 2 Uhr in Flacht angekommen wäre, und zwischen Job in Sindelfingen und nächstem Training in Flacht irgendwo eine fundierte Video-Analyse der Partie zwecks Vorbereitung des nächsten Trainings auf der To-do-Liste stehen würde. „Es wäre ein stetiges mentales Umschalten geworden“, ist Nico Reinecke überzeugt, „in der Bundesliga muss ein Cheftrainer noch mehr Zeit investieren als in der Zweiten Liga Pro.“
Klappe zu, Affe tot? Keineswegs. Raus aus dem Volleyball-Geschäft ist der 41-Jährige damit nicht. Beim künftigen Bundesligisten wird er eine Aufgabe in der sportlichen Abteilung bekommen – und man muss kein irrwitziger Zocker sein, wenn man 100 Euro bei einem Wettanbieter darauf setzen würde, dass er im Amt eines Co-Trainers Erstliga-Luft schnuppern wird. Aber noch ist nichts spruchreif und offiziell, auch der Name des Chefcoachs des Bundesligisten Blaubären TSV Flacht wird nur intern ausgesprochen.
In all dieser Gemengelage wäre es ein dummdreister Schluss, davon zu sprechen, dass Nico Reinecke bei den Blaubären gescheitert sei, da er künftig nicht mehr als Chefcoach firmiert. Er hat einen wichtigen Beitrag geleistet, professionelles Volleyball bei dem davor in Deutschland unbedeutenden TSV Flacht auf den Weg zu bringen, fast wie ein Kapitän in der Mannschaft von Christoph Kolumbus, die sich 1492 in die Weiten des Atlantiks wagte, ohne zu wissen, wo sie ankommen würde.
Nico Reinecke hat die Blaubären durch die erste, schwierige Zweitligasaison geführt und er hat die Mannschaft in der zweiten Spielzeit zu einer verbessert, die im oberen Drittel der Tabelle ihrem Kurs folgte. Dabei konnte er davor lediglich die Erfahrung als Drittliga-Trainer der Frauen des TSV Georgi Allianz Stuttgart vorweisen. Nun sammelte er noch zwei Jahre als Chefcoach eines Zweitligisten. „Ich kam von ganz unten und kann nicht behaupten“, sagt er nüchtern, „dass ich im Profi-Bereich keine neuen Erfahrungen mehr sammeln könnte.“
Es ist eher ein Auf-, denn ein Abstieg. Nico Reinecke hat die Ehre, in seinem Heimatverein in der Beletage des Frauen-Volleyballs zu arbeiten, und zwar als maßgebliches Mitglied. „Ich freue mich, Teil des TSV Flacht zu sein, wenn wir gegen Schwerin, Dresden und Allianz MTV Stuttgart antreten“, sagt er und man hört in der Stimme, dass dies keine Phrase ist. Nico Reinecke weiß: Er hat mehr erreicht als er zu hoffen wagte, als er mit 18 Jahren begonnen hat, Volleyball zu spielen.